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Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt

19. März 2021  in Allgemein, Persönlich

by Marina12 Kommentare

Du bist Kunde bei mir oder willst es vielleicht werden. Du stöberst durch meine bis jetzt noch nicht sehr zahlreichen Blogartikel und dann stolperst du über diese Überschrift. Was hat das jetzt bitte schön mit Energieberatung und Bauen zu tun? Dieser Blogartikel ist sehr persönlich geworden. Mehr als ich zu Beginn des Schreibens erwartet habe.

Meine Website wird von der Technikelfe Sara Menzel-Berger betreut. Sie hat mir den Laden hier eingerichtet und sorgt dafür, dass alles am Laufen bleibt. Sie hat zu einer Blogparade aufgerufen. Viele Male habe ich ihren Blogartikel dazu durchgelesen, bin immer wieder daran hängen geblieben. Wusste aber nicht so recht, was ich zu diesem Thema beitragen könnte.

Im Hauptberuf bin ich Energieberaterin. Ich helfe meinen Kunden dabei, energetisch anspruchsvolle Sanierungskonzepte umzusetzen. Dabei berate ich sie, wie sie möglichst viel Fördermittel einsetzen und damit bares Geld sparen können. Und zugegeben: am meisten macht mir mein Job Spaß, wenn ich eine Baustelle begleiten kann, bei der aus dem hässlichen Entlein der schöne Schwan entsteht. Wenn aus einem in die Jahre gekommenen Gebäude mit zu kleinen Fenstern, ungünstigem Grundriss und Mini-Bad durch die Sanierung und Modernisierung ein lichtdurchflutetes, offenes und an die aktuellen Bedürfnisse angepasstes Schmuckstück wird. Das ganz den Vorstellungen der Bauherrschaft entspricht. In dem sie sich wohlfühlen. Dann habe ich ein bisschen dabei geholfen, dass sie sich einen Teil ihrer Welt so machen konnten, wie sie ihnen gefällt.

Es gibt allerdings einen Teilbereich in meinem beruflichen Leben, in dem Menschen sich die Welt oft nicht nach ihren Wünschen gestalten können. In dem sie eingeschränkt sind. Viel zu häufig aber auch eingeschränkt werden. Ich bin persönliche Assistentin für eine Rollstuhlfahrerin.

Was ist eine persönliche Assistenz?

Als persönliche Assistentin unterstütze ich Menschen mit Behinderung. "Meine" Rollifahrerin ist Arbeitgeberin. Das heißt, ich bin bei ihr sozialversicherungspflichtig angestellt. Ich unterstütze sie in allen Dingen des täglichen Lebens, die sie selbst auf Grund ihrer Behinderung nicht kann. Ganz grob gesagt: ich bin ihre Arme und Beine, aber nicht ihr Kopf.

Ich helfe zu Hause und in der Freizeit. Fahre sie mit ihrem behindertengerecht umgebauten Kleinbus zur Physiotherapie oder zum Einkaufen. Wir frühstücken gemeinsam und gehen dann mit dem Hund raus. Aktuell bin ich etwa fünf Tage im Monat bei ihr, aufgeteilt in ein bis drei Tage am Stück, auch über Nacht. Das nennt sich dann Blockdienst.

Warum mache ich das?

Ganz klar: Assistenz und Büro lassen sich manchmal nicht gut unter einen Hut bringen. Vor allem in der aktuellen Zeit. Das Arbeitspensum für Energieberater stieg schon im letzten Jahr an. Der Anstieg wurde noch deutlich größer mit der Einführung der Bundesförderung effiziente Gebäude - BEG Anfang dieses Jahres. Ich muss Aufträge teilweise ablehnen. Manchmal warten Kunden von laufenden Baustellen lange auf eine Rückmeldung von mir.

Warum mache ich das also? Weil ich mir eine Frage stelle: wie möchte ich leben, wenn ich selbst in einer ähnlichen Situation bin? Diese Frage stelle ich mir übrigens auch im Zusammenhang mit meiner Schwiegermutter, die auf Grund ihres Alters und der damit schwindenden Kraft ebenfalls Unterstützung im Alltag braucht. Jeden Abend wird die Schwiegermutter abgeholt und von mir bekocht. Unterstützung im Alltag, wo es nötig ist. Aber nicht darüber hinaus. Selbstbestimmt möglichst in der eigenen häuslichen Umgebung zu leben ist ein sehr hohes Gut. Selbst darüber bestimmen zu können, wann ich aufstehe oder zu Bett gehe. Was ich heute essen möchte. Wohin ich heute gehen möchte. Was ich anziehen möchte. Wofür ich mein Geld ausgebe. Für die meisten von uns ist das alles selbstverständlich.

Ich habe in den letzten Jahren allerdings gesehen, dass das häufig nicht so selbstverständlich ist. Und das Tragische ist, dass wir uns alle miteinander in einer ähnlichen Situation früher oder später, mehr oder weniger, wiederfinden werden. Ob durch Unfall oder das Alter: jeder von uns wird wahrscheinlich irgendwann einmal auf Unterstützung angewiesen sein. Und dann ist es gut, wenn es Unterstützung gibt.

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Wie bin ich zur persönlichen Assistenz gekommen?

Ich habe keinen persönlichen Bezug zu behinderten Menschen. Weder in der Familie, noch im Freundeskreis. Soviel sei vorweggenommen. Vor einigen Jahren habe ich mir folgende Frage gestellt: was haben andere davon, dass es mich gibt? Klar, für meine Familie gebe ich das letzte Hemd. Meine Geschwister sind alles für mich. Auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind. Auch enge Freunde können auf mich zählen. Ich mache Musik und erfreue dadurch viele. Aber darüber hinaus? Wie kann ich jemand anderem ganz praktisch helfen?

Ich recherchierte und stolperte über eine Stellenanzeige als persönliche Assistentin für ein Kindergartenkind. Minijob, ein paar Mal vormittags. Begleitung des Kindes im Kindergarten, spielen an die Behinderung angepasst, Übungen von der Physiotherapie vorgegeben. Ich dachte mir, dass ich das zeitlich eigentlich hinbekommen könnte. Also bewarb ich mich. Geworden ist nichts draus. Aber die Neugierde hatte mich gepackt. Ich fand ein Stellenportal in den Weiten des Netzes und schaute, was es so in der Umgebung gab. Blockdienste fand ich spannend. Ein paar Tage im Monat arbeiten und mit sechs Tagen schon eine 75%-Stelle abgedeckt haben. Das klingt doch gut. Ich habe mich beworben und hatte ein paar Tage später schon meinen ersten Job.

Was habe ich dabei so erlebt?

Ich werde jetzt keine Geschichten über meine Arbeitgeber*innen erzählen. Aber das ist denke ich jedem klar. Ich möchte eher von meinen Erfahrungen berichten, wie ich augenscheinlich nicht behinderte Menschen im Umgang mit körperlich behinderten Menschen war genommen habe. Und bitte, das sind meine persönlichen Beobachtungen. Ich möchte damit nicht alle "Fußgänger" über einen Kamm scheren. Aber vielleicht sind du und ich manchmal einfach nur gedankenlos. Wenn ich durch die Schilderung meiner Beobachtungen und der möglichen Bewertung etwas zum Besseren verändern kann, umso besser.

Beim Einkauf wird mir das Pin-Pad hingehalten, obwohl ich nicht die EC Karte überreicht habe. Bei einem "Erstkontakt" werde häufig ich angesprochen. Oder noch besser, ich bekomme eine Antwort, obwohl ich gar nicht gefragt habe. Im Autohaus erklärt der Mitarbeiter mir die vertraglichen und technischen Zusammenhänge, obwohl der Mensch mit Behinderung neben mir sitzt, das Gespräch eröffnet hat und im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten ist. Der Mensch mit Behinderung wird häufig weniger ernst genommen. Das sind nur ein paar wenige Eindrücke. Das Ausmaß ist viel umfangreicher, als ich hier beschrieben habe. Das finde ich sehr erschreckend.

Ich höre folgenden Spruch von Menschen mit Behinderung immer wieder: I'm disabled, not stupid. 

Es ist nicht schlimm, wenn ihr noch nie etwas mit Menschen mit Behinderung zu tun hattet. Geht einfach normal mit ihnen um. Man darf gucken. Aber es ist ein Unterschied ob man guckt oder starrt. Geht erst mal davon aus, dass jeder behinderte Mensch erst einmal für sich selbst sprechen kann. Und bitte: respektiert Behinderten-Parkplätze. Ja, auch beim Aldi. Einen Gruß an das Senioren-Ehepaar, das neben dem behindertengerecht umgebauten Kleinbus auf der Beifahrerseite parkte. Neben den eingezeichneten Parkplatz. Nachdem ich im Laden war. So dass ich den Kassettenlift nicht mehr herausfahren konnte.

Bin ich dabei geblieben?

Bin ich. Meine erste Stelle habe ich nach ein paar Monaten gewechselt. Gerade in der persönlichen Assistenz mit 24h-Blockdiensten muss das zwischenmenschliche einfach ziemlich gut passen. Und vollkommen wertfrei: das tut es manchmal einfach nicht. Also habe ich einen neuen Topf gesucht, der vielleicht mich als Deckel brauchte. Und ich bin fündig geworden. Bei meiner jetzigen Assistenznehmerin bin ich bereits seit vier Jahren. Und unterstütze sie dabei, dass auch sie ihre Welt so gestalten kann, wie sie das möchte.

Vielleicht ist das auch ein Job für dich? Es gibt so viele unterschiedliche Bedürfnisse bei behinderten Menschen, dass es eigentlich für jeden den passenden Job gibt. Angefangen von Unterstützung von wenigen Stunden in der Freizeit bis hin zum 24h-Assistenzmodell, in dem ich beschäftigt bin. Assistenten und Assistentinnen werden immer händeringend gesucht. Auch ist der Anfang als Quereinsteiger häufig total unproblematisch. Jeder Mensch mit Behinderung hat andere Bedürfnisse und wird seine Assistenz entsprechend einarbeiten. Offen für neue Erfahrungen zu sein, sich selbst auch mal zurücknehmen zu können und anderen Menschen die Teilhabe an den alltäglichen Dingen des Lebens ermöglichen zu wollen, das reicht häufig schon für einen Einstieg in dieses Berufsfeld aus. Und vielleicht magst du es einfach wie ich einfach mal ausprobieren. Und vielleicht bleibst du auch.

Bis dahin bin ich den größten Teil meines beruflichen Alltags gerne deine Energieberaterin. Aber ein paar Tage im Monat gehören der Assistenz.

Marina
  • Hallo Marina, das ist ein sehr beeindruckender Artikel. Manche Menschen können sich dmin unserer Welt der unbegrenzten Möglichkeiten sich ihre Welt tatsächlich nicht so machen wie sie wollen. Ich möchte mir kaum vorstellen, wieviele Hindernisse es schon bei den einfachsten und selbstverständlichsten Tätigkeiten gibt. Alles geht viel langsamer. voran. Und dann vermutlich der ganze Behördenkram. Immer wenn ich mich jetzt über etwas aufrege, werde ich zuerst überlegen, ob es nicht vielleicht ein Luxusproblem ist. Und wie Du schreibst, irgendwann sind wir alle davon betroffen.

    • Liebe Karla,
      darin übe ich mich auch: gelassener auf viele Dinge zu reagieren.
      Gemäß dem Gelassenheitsgebet:

      Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
      den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
      und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

      Liebe Grüße Marina

  • Liebe Marina,
    Danke für diesen wundervollen Einblick in diese Welt, die mir zugegeben völlig fremd ist. Da stellt sich mir sofort die Frage, ob es diese Jobs nur in Deutschland gibt, oder ob es so etwas auch in Österreich gibt. Ich weiß ja schon lange, dass Du das machst, aber dieser Artikel hat mir noch einmal mehr klar gemacht, welch großartige Arbeit Du hier leistest. Danke!
    LG Susanne

    • Liebe Susanne,

      das gibt es in Österreich auch. Ich habe in den einschlägigen Facebook-Jobbörsen bereits die eine oder andere Stellenanzeige gesehen. Wie das dort organisiert ist, weiß ich allerdings nicht.

      Liebe Grüße Marina

  • Liebe Marina,

    danke für den Einblick in deine Assistenzarbeit. Durch meine Arbeit in der Kinderkrippe bin ich zwar schon ein paar Mal in Berührung gekommen mit Menschen, die eine Beeinträchtigung haben, aber wie du schreibst – im Alltag weiß man oft nicht, wie man damit umgehen soll. Man wird unsicher, ängstlich oder versucht zu helfen wo gar keine Hilfe notwendig ist. Da darf ich mich also auch wieder ein Stück selbst an der Nase nehmen und im Alltag natürlicher damit umgehen!

    Herzlichst,
    Sara

    • Liebe Sara,

      danke DIR für deine tolle Blogparade. Die hat’s gebraucht für meinen Artikel 🙂
      Helfen, wo gar keine Hilfe notwendig ist. Das ist ein gutes Stichwort. Ich habe mal im Supermarkt einen Rollifahrer gesehen, der selbst einkaufte. Er schaut zu einem Regal. Ich sprach ihn an, ob ich ihm etwas helfen könne. Konnte ich tatsächlich. Ich habe ihm das gewünschte Produkt gereicht und gut war. Rollifahrer werden schon fragen, wenn sie Hilfe brauchen. Das erinnert mich an einen Cartoon, den ich vor einigen Jahren sah: Eine Oma steht am Zebrastreifen. Ein junger Mann nimmt sie dienstbeflissen am Arm und geleitet sie darüber. Auf der anderen Seite angekommen sagt sie, dass sie den Zebrastreifen gar nicht überqueren wollte.
      Liebe Grüße Marina

  • Liebe Marina, ich finde das sehr beeindruckend, wie Du hier unterstützt. Ich habe von Dir schon öfter den Ausspruch gehört: „Ich bin ihre Arme und Beine, aber nicht ihr Kopf.“ Aber in den Situationen, die Du beschreibst, wo jemand über ihren Kopf hinweg sich an Dich wendet, wird mir jetzt erst so richtig klar, was das bedeutet. Puh! In dieser Situation möchte ich (als Betroffene) nicht stecken. Also: Großen Respekt und Bewunderung von meiner Seite, dass und wie Du Dich hier engagierst! Und DANKE für diesen sehr persönlichen Beitrag, der auf Deiner beruflichen Seite gut aufgehoben ist, wie ich finde. Obwohl ich Dich jetzt doch schon einige Zeit kenne, habe ich Dich gerade noch besser kennengelernt. Liebe Grüße, Gabi

    • Liebe Gabriele,

      das mit dem „über den Kopf hinweg“ ist wirklich ein Problem. Deshalb fand ich den Artikel im Guardian auch so passend. Viele Menschen nehmen automatisch an, dass eine körpelich beeinträchtigte Person automatisch auch was am Kopf haben muss. Vielen Dank für dein Feedback.

      Gruß Marina

  • Liebe Marina, danke für diesen Einblick. Ich schätze Deine einfühlsame Ehrlichkeit schon ein Weilchen, dieser Artikel bestätigt das mal wieder ?
    Mir gehts im Umgang mit Menschen, die eine Einschränkung haben, auch oft so, dass ich verunsichert bin – wie verhalte ich mich „richtig“? Du hast mich daran erinnert, dass es ein SEHR einfaches Mittel gibt, das rauszubekommen … fragen !
    Liebe Grüße Frauke

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